„In einem Spielfilm hätte das niemand geglaubt“
Filmemacherin Nina Kusturica über ihren Film „Little Alien“
im Interview mit Corinna Milborn


Wie kam es zu diesem Film über jugendliche Flüchtlinge?
Ich überlege vor einem Film: Was interessiert mich? Und was davon ist der Zeit voraus? Ich mag die Idee, die Zukunft nach vorne zu holen. Dann frage ich mich: Habe ich Lust dazu? Denn lebt man mindestens zwei Jahre mit dem Thema, wenn es schnell geht. Und schließlich: Kann ich etwas beitragen? Bei diesem Thema traf das alles zu – auch weil ich ja selbst einmal Flüchtling war. Ich überlegte allerdings sehr lange, ob es ein Spielfilm oder ein Dokumentarfilm werden sollte. Während der Vorrecherche war ich bei einem Behördentermin, bei dem ein jugendlicher Flüchtling aufgefordert wurde zu entscheiden, wann er geboren sein sollte. Er wusste nur das Jahr, und musste den Tag entscheiden – mit allen Konsequenzen, wie das Datum der Volljährigkeit. Das war so absurd dass ich wusste: Das wird ein Dokumentarfilm. Wenn ich so eine Szene in ein Drehbuch schreibe, glaubt mir das niemand.

Du bist selbst als Flüchtling aus Bosnien nach Österreich gekommen. Hast du dich in den Jugendlichen wieder erkannt?
Ja, sehr. Meine Situation war zwar nicht vergleichbar – ich bin mit meiner Familie gekommen, das ist natürlich viel einfacher. Aber diese Anfangsschwierigkeiten, die Bilder von Österreich, diese Naivität, mit der man in dieses neue Land geht – das habe ich erkannt. Ich war genauso. Es hat mir Mut gemacht, nach so langer Zeit zu sehen, dass meine Schwierigkeiten damals nichts Besonderes waren. Sondern dass es wohl allen so geht.

Ihr habt sehr viel Zeit mit den ProtagonistInnen verbracht. Wie habt ihr sie kennen gelernt und ausgewählt?
Wir mussten sie ja von Anfang an begleiten. Der Startpunkt war also das Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen. Doch dort wurden wir mit einer Auflage konfrontiert: Wir durften mit niemandem sprechen. Man hat uns Sanitärräume gezeigt, leere Häuser, den Computer für die Fingerabdrücke. Damals waren 700 Flüchtlinge in Traiskirchen, 80 davon im Haus für Minderjährige, und mit keinem durften wir sprechen. Der Leiter meinte dann abfällig, das seien zum Großteil ohnehin keine Jugendlichen – er habe schon einen Grauhaarigen gehabt, der behauptet habe, er sei 17. Ich selbst bin bei Ausbruch des Krieges in Bosnien ergraut. Damals war ich 17, und seither färbe ich meine Haare. Dieser Zynismus hat mich bestärkt: Dieser Film muss gemacht werden.

Aber wie seid Ihr unter diesen Umständen an die Jugendlichen herangekommen?
Wir haben es schließlich geschafft, zu einem der Ausflüge zu stoßen, die ehrenamtliche Helfer mit den Jugendlichen machen. Wir trafen sie in den Weinbergen bei Baden, hatten auf Verdacht Übersetzer mit. Dort, im Wald, haben wir den Jugendlichen das Projekt erklärt und ihnen gesagt: Wer mitmachen will, soll morgen in die Kebabstube in Traiskirchen kommen. Dann sind wir da gesessen und hatten keine Ahnung: Wer kommt? Wer wird im Film sein? Es hat geklappt.

Ihr seid an den Protagonisten sehr nahe dran – sie sprechen miteinander, als ob da keine Kamera wäre, als ob sie allein wären. Wie habt ihr das geschafft?
Unser Ziel war von Anfang an am Leben der Jugendlichen teilzunehmen, aber nicht durchs Schlüsselloch zu schauen. Das war nur durch die sehr lange Drehzeit möglich: Zeit, Zeit, Zeit. Wir wurden zu einem normalen Teil ihres Lebens. Wir hatten da natürlich eine große Verantwortung. Ich wollte einen Film machen, den sie gerne sehen und noch ihren Enkelkindern zeigen.

Ist es da überhaupt möglich, einen professionellen Abstand zu halten?
Anfangs haben wir sehr viel über Abgrenzung nachgedacht. Aber: Die Jugendlichen haben uns in ihr Leben gelassen, wir sie in unseres. Das war sehr schön und oft auch sehr bewegend. Achmad etwa, der junge Somalier, wurde verhaftet und durfte einen einzigen Anruf machen, bevor er nach Italien abgeschoben werden sollte. Er hat uns angerufen. Wir haben es geschafft, ihn aus dem Gefängnis zu holen, weil er fälschlicherweise verhaftet worden war. Wenn er nicht unsere Karte eingesteckt hätte, wäre er nicht mehr hier. So etwas schweißt zusammen: Ich habe jetzt 20 Freunde mehr.

Ihr wart auch bei vielen Behördenwegen dabei. War es schwer, die Drehgenehmigungen zu bekommen?
Es war ein ständiger Kampf. Die Betreuer der Jugendlichen sind sehr vorsichtig, die Behörden teilweise völlig unkooperativ. Beim Innenministerium etwa war gar nichts zu machen: Wir waren bei keinem dieser Interviews dabei, sondern erfuhren die Inhalte nachher von den Jugendlichen.

Ihr zeigt die Jugendlichen ausführlich beim Tanzen, bei einer Schneeballschlacht. Warum hast du entschieden, diesen schönen Seiten und dem Alltag so viel Platz zu geben?
Das war mir sehr wichtig! Es gibt diesen Gedanken, dass Ausländer „anders“ seien. Ich wollte zeigen: Es gibt keinen Unterschied. Die Mädchen holen sich die Kleider nicht im Geschäft, sondern im Caritas-Lager. Aber sie überlegen wie jedes andere Mädchen: Will ich einen Pullover mit oder ohne Kragen? Das sind also Identifikationsszenen.

Besteht nicht die Gefahr, dass da der Reflex kommt: „Denen geht es eh so gut“?
Diese Reaktion haben wir schon. Etwa: Die haben ja ein Handy! Aber natürlich haben sie das. Es sind Jugendliche – sie würden eher hungern, als aufs Handy zu verzichten. Das Bild vom barfüßigen Flüchtling stimmt nicht mehr für die, die es bis Österreich geschafft haben. Das Nicht-Haben verschiebt sich: An der Grenze ist es noch der Mangel an Nahrung. Hier ist es das Warten, das Schwach-gehalten-werden, das Ausgeliefert-sein, das Verbot zu lernen, zu arbeiten, stark zu werden.

Ihr habt auch an drei Punkten an den Außengrenzen gefilmt. Für mich gehören die Szenen zu den bewegendsten im Film. Warum diese Entscheidung, den Mikrokosmos der Jugendlichen in Wien zu verlassen?
Wir wollten zeigen, dass diese Jugendlichen nicht vom Himmel gefallen sind, sondern einen Weg hinter sich haben. Natürlich könnten die Grenzen ein Film für sich sein. Wir wollten also punktuell Geschichten erzählen, die Teil der Reise unserer ProtagonistInnen sein könnten. Aber wir wollten auch das System zeigen – diese Absurdität, der Aufwand, den die EU betreibt, um sich angeblich zu schützen. Und wen das trifft.

Auch dort, an den Grenzen, seid ihr sehr nahe an den Jugendlichen dran, die unter schrecklichen Bedingungen leben. War es schwer, Kontakt zu bekommen?
Die hatten gar keine Angst – viel weniger als die, die sich schon bis Österreich vorgekämpft haben. Sie sind noch lange nicht so eingeschüchtert, sondern noch voller Naivität und Hoffnung: Sie denken: Das muss ein Fehler sein! Ich muss der einzige sein, dem so mitgespielt wird! Sie haben ein Bedürfnis, das zu zeigen, und haben uns immer wieder gebeten: Erzählt das! Zeigt das der Welt! Sie denken noch: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Es gab da schon einschneidende Erlebnisse. Die Jugendlichen, mit denen wir in Ceuta gedreht haben, wurden in dieser Zeit verhaftet – eine übliche Einschüchterungsmaßnahme, sagten sie. Beim Wegfahren waren wir erschüttert, dass wir einfach auf die Fähre gehen konnten, während sie gejagt werden und dort hinter dem Zaun stehen bleiben müssen.

Hat Euer Film den ProtagonistInnen gefallen?
Das war die schwierigste Premiere meines Lebens! Sie haben sehr viel gelacht, waren auch traurig – es war eine Atmosphäre wie nach einer gemeinsamen Reise, nach der man sich trifft, um die Bilder anzusehen. Sie haben mir das Gefühl gegeben, dass sie auf den Film stolz sind und dazu stehen können.

Was wünschst du dir, dass KinobesucherInnen aus dem Kino mitnehmen?
Ich wünsche mir, dass jemand das Kino verlässt und sagt: Ich habe eine Welt kennen gelernt, die ich vorher nicht kannte. Auch, dass der Film zum Nachdenken anregt. Ich würde auch sehr gerne diskutieren, am liebsten mit österreichischen Jugendlichen: Ich hoffe, dass ihnen der Film die Realität der geflüchteten AltersgenossInnen näher bringt. Es ist immer noch so schwierig, Kontakt zu haben, wenn man nach Österreich kommt.

Nach so viel Zeit mit den Jugendlichen – was soll sich am System ändern?
Das ganze System ist falsch. Es bietet so viel Möglichkeit für Machtmissbrauch, dass es sich mit ein paar kleinen Gesetzesänderungen nicht reparieren lässt. Aber ich habe gute Projekte kennen gelernt, die im Kleinen funktionieren, etwa das Patenschaftsprojekt Connecting People. Aber große Lösungen kann ich als Künstlerin nicht bieten: Eher utopische Gedanken. Vielleicht mache ich doch einmal einen Spielfilm über dieses Thema.


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